Das Kind und die Zauberdinge
13.07.2023
"Es ist ein Stück nicht nur für Kinder, sondern auch über Kindheit."
Zum mittlerweile dritten Mal wird im Jugendprogramm der Salzburger Festspiele eine Oper für Kinder aufgeführt. Zum zweiten Mal im Schauspielhaus, wo man, wie Ursula Gessat, Education Managerin der Salzburger Festspiele betont, „richtiges Theater mit allen technischen und kostümspezifischen Möglichkeiten“ machen könne. Weshalb die gemeinsame Wahl in diesem Jahr auf Maurice Ravels L’Enfant et les sortilèges fiel, möchte sie von Regisseurin Giulia Giammona wissen. „Das ist ein sehr reichhaltiges Stück. Zuerst hat mich daran die Musik fasziniert. Außerdem finde ich es total spannend, die Reise, die das Kind vom Nachmittag bis zum nächsten Morgen durchlebt, durch dessen Augen mitzuerleben“, sagt sie. Das Werk habe sehr viele wechselnde Nuancen und Stimmungen, man sei „vielen überraschenden Wendungen und dazu einem besonderen musikalischen Reichtum an Elementen aus Jazz, Varieté oder Walzer ausgeliefert“.
Auf den Figurenreichtum in L’Enfant et les sortilèges weist Ursula Gessat hin, acht Sängerinnen und Sänger verkörpern über 20 Rollen. „Ich habe mich erst einmal gefragt: Wie kann man das überhaupt umsetzen?“, meint dazu Giulia Giammona. Für sie sei es auch sehr spannend, wie Ravel die Doppelung der Figuren kompositorisch gemeistert habe.
Sie habe nicht lange nachdenken müssen, als Ursula Gessat sie gefragt habe, ob sie die musikalische Leitung übernehmen wolle, erzählt Dirigentin Anna Handler. Sie schätze das Herzblut, mit dem diese sich für die jüngere Generation einsetze. Grundsätzlich sei Ravel ein hervorragender Instrumentator, das zeige sich beispielsweise an seiner Orchestrierung von Mussorgskys Bilder einer Ausstellung. Im Hinblick auf die reduzierte Besetzung in der vorliegenden Bearbeitung von Didier Puntos habe sie zwar zuerst „geschluckt“, sie sei sich aber sicher, dass es gelinge, auch darin den Farbreichtum von Ravels Musik herzustellen und sehe dies als Chance, sich noch intensiver in die Musik hineinzufühlen: “Mir gefällt Giulia Giammonas Bild einer Reise, weil das Stück auch musikalisch viele Metamorphosen durchläuft“. Interessant sei auch, wie Ravel das Geschehen durch die Verwendung musikalischer Intervalle symbolisiere: „Auf diese Weise kehren wir am Ende zum Anfang zurück“. Das Werk, für dessen Komposition Ravel fünf Jahre gebraucht habe, zähle für sie zum Gipfel seines Schaffens. In Bezug auf die Länge von lediglich 50 Minuten sagt sie: „Ich finde es toll, dass er in so kurzer Zeit so viel sagen und auf den Punkt kommen kann.“
Ob sie im Hinblick auf die Wandlung, die das Kind im Lauf der Geschichte vollzieht, von einem Stück mit einem überholten Erziehungsmodell sprechen würde, fragt Ursula Gessat Regisseurin Giulia Giammona nach ihrem Umgang mit der Geschichte. „Uns ging es in der Konzeption um die Auseinandersetzung mit den Charaktereigenschaften eines heutigen Kindes“, antwortet sie. „Worüber ich gestolpert bin, ist die Frage nach dem Wutausbruch des Kindes und der Zerstörung von Prestigeobjekten, die ein Stück weit auch für die gesellschaftlichen Verhältnisse der damaligen Zeit stehen. Durch das Auftauchen der anderen Figuren, auch der Tiere, deren Beschuldigungen es sich ausgesetzt sieht, gelangt das Kind zur Einsicht, dass sein eigenes Handeln eine Wirkung auf andere hat. Seine Wut ist der Aufhänger für die Aufforderung: Seid mutig und geht auch mal raus! Darin steckt auch eine Auseinandersetzung mit den Folgen von Isolation, Vereinsamung und Kontaktblockaden, die es während der Corona-Zeit gegeben hat. Die Begegnung mit der Gruppe der Tiere führt das Kind zur der Erkenntnis: Es ist nicht egal, was ich tue“.
Auch Anna Handler meint: „Für mich ist wichtig: Wie können wir die Stoffe von damals aktuell machen. Ich habe mich daher sehr gefreut, dass der Text dahingehend neu gesetzt worden ist und dass dadurch gezeigt wird: Das Kind hat Mut und tut Gutes“. Zum Umgang mit dem Text merkt Giulia Giammona an: Ausgehend vom französischen Wort ’sage‘ (artig) habe ich mich gefragt: Ist das das richtige Wort, denn „artig“ ist ja im Deutschen anders konnotiert.“ Sie hat es daher aus dem Französischen ins Deutsche mit "gut" übersetzt. Angesprochen auf die verschiedenen Welten, die das Kind im Lauf des Stücks durchwandert, sagt sie: „Die Anordnung erscheint zunächst wie eine wirre Aneinanderreihung von Szenen und Personen, gleichzeitig bleibt das Kind aber immer Kind und wechselt auch sein Kostüm nicht. Quasi als guten Begleiter hat es das Eichhörnchen an seiner Seite, dessen Käfig symbolisiert den „goldenen Käfig“, in dem das Kind in einer Überreizung von extrem vielen verschiedenen Dingen gefangen ist. Zusammen mit dem gleichzeitig bunt glitzernden, aber auch künstlich-sterilen Bühnenbild verkörpert das die von Konsum und Menge geprägte Zeit, in der wir leben.“ Auch musikalisch ereigne sich etwas Besonderes, wenn sich die Sphäre des Kindes nach draußen öffnet. Die Tiere, auf die das Kind dort trifft, lebten in einer Welt, die im Widerspruch zur derjenigen des Kinderzimmers stehe. Durch das Verschmelzen dieser beiden Sphären werde klar: Das Kind muss Verantwortung übernehmen, es kann nicht einfach direkt in seine „alte“ Welt zurückkehren.
Auch Anna Handler findet die „Bewusstseinsentwicklung, die das Kind vollzieht“, spannend. „Das ganze Stück hat auch durch die musikalische Behandlung der Intervalle etwas von einer Rückkehr zu einem Ursprung. Es ist ein Stück nicht nur für Kinder, sondern auch über Kindheit. Jeder von uns kann darüber nachdenken: Was verbinden wir mit Kindheit?“. Musikalisch werde auch das Zauberwort „Mama“, um das es geht, durch eine motivische, für die Mutter stehende Kadenz dargestellt. Durch den letzten Akkord kommen Mutter und Kind wieder zusammen: „Das Stück beginnt und endet mit der Mutter. Sie spielt eine wichtige Rolle, obwohl sie – auch in unserer Inszenierung – kaum Präsenz hat“, sagt Giulia Giammona.
Der Konflikt mit den Eltern dauere letztlich ein Leben lang, denkt Anna Handler den Kern der Geschichte weiter. Und am Ende werde man dann oft eben doch so wie die eigenen Eltern. Daher freut sie sich: „Wir haben es geschafft, die Mutter nicht als eine böse Figur zu zeichnen, sondern als eine, die mit letzter Kraft ihre Liebe an das Kind weitergibt. Das widerspricht sich nicht und spiegelt sich auch in der Musik wider“.
Angesprochen auf das letztjährige gemeinsame Debüt und die Bedeutung, Musiktheater für junges Publikum zu machen, fügt sie hinzu: „Für mich gehört Musikvermittlung zur Essenz meines künstlerischen Daseins. Ich hatte schon immer auch in jungem Alter das Bedürfnis, das weiterzugeben, was mich beschäftigt. Die Mehrdimensionalität von Musik auch als Bildungs- und Erziehungsaufgabe hat mich schon immer gereizt.“ Letztendlich gehe es in jedem Musikstück auch darum, dessen Rätsel zu dekodieren: „Wenn man etwas mit dem entsprechenden Wissen hört, wird ein unscharfes Bild plötzlich scharf“. Sie freue sich daher sehr, auch in diesem Jahr wieder Teil des Jugendprogramms der Salzburger Festspiele sein zu dürfen.
Für Giulia Giammona ist es in diesem Zusammenhang wichtig, auch ohne „klassischen Kontext“ einfach mitmachen zu können. Sie hebt hervor, dass auch in sprachlicher Hinsicht Barrieren abgebaut werden: „Ich finde es toll, dass wir die Oper auf Deutsch machen können“. Sie lobt auch die Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des Young Singers Project, die durch das engagierte Lernen der deutschen Texte einen wichtigen Beitrag leisteten, um immer in Kontakt mit den Kindern bleiben zu können. Das gelte auch für die Operncamps, bei denen Kinder und Jugendlich ohne Scheu mitmachen könnten. Auch ihr selbst habe ein Jugendförderungsprogramm dabei geholfen, ohne Vorkenntnisse zur Oper zu finden. Worin sie auch einen der Vorzüge des Operncamps sieht, in denen Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus allen Bildungsschichten und verschiedensten Nationen die Möglichkeit hätten, Stoffe selbst zu erarbeiten und sich Stücken aktiv spielerisch zu nähern: „Man muss nichts Besonderes können, um alles verstehen zu können.